Gerader Rücken, aufrecht bleiben, Kopf oben halten, Knie parallel, Knie hinter den Zehenspitzen, und und und. Kaum eine Übung kommt im Alltag so oft vor und ist doch so komplex wie die Kniebeuge und ihre Abwandlungen. Eines vorweg, DIE perfekte Kniebeuge gibt es nicht. Wie soll jemand dieselbe Kniebeuge machen können, wenn das Hüftgelenk anders gebaut ist, die Beweglichkeit geringer, der Oberschenkel länger oder der Oberkörper kürzer. Es fließen so viele Gelenke und Körperteile in die Übung mit ein, was es auf der einen Seite zu einer so wertvollen Übung macht und zurecht als Ganzkörperübung gelten lässt, auf der anderen Seite kann es aufgrund der Komplexität keine allgemein gültige Form geben sondern man muss immer das Gesamtbild betrachten und sich ein wenig in die Biomechanik hineindenken. Denn nichtsdestotrotz gibt es natürlich Anhaltspunkte bzw. Vorgaben in den einzelnen Körperabschnitten, die beachtet werden müssen.
Gehen wir die einzelnen Körperbereiche durch, welche dich zu deiner perfekten Kniebeuge bringen.
Muskeln:
Eigentlich ist der Begriff „Kniebeuge“ irreführend, weil v.a. die knie- und hüftstreckende Muskulatur gekräftigt wird. Das Strecken ist also die Bewegung, bei der der Widerstand überwunden werden muss. Somit werden Waden, Oberschenkelvorderseite und Gesäß als hauptsächlich bewegende Muskulatur gekräftigt. Statisch arbeiten der Rückenstrecker und die Schultergürtelmuskulatur gegen eine Schultergürtel- und Wirbelsäuleninstabilität. Die Oberschenkelrückseite übernimmt die Aufgabe der Kniesicherung und Stabilisierung (die hüftstreckende Funktion ist aufgrund ihrer Insuffizienz durch das gebeugte Kniegelenk nicht allzu relevant).
Diversen Kniebeugevariationen wird eine unterschiedliche starke Wirkung auf die einzelnen Muskelgruppen attestiert. Viele davon mit absolut logischen biomechanischen Begründungen, manche aufgrund von EMGs (welche als Indikator für die Beteiligung an der Bewegung nicht mehr unumstritten sind), manche einfach aus Bro-Science Gründen. Ein nützlicher Tipp mag sein, dass der Front-Squat (Hantel/Gewicht vorne) rückenschonender ist, da keine so großen Drehmomente auf die Lendenwirbelsäule (LWS) wirken.
Kopf:
Die absolut stressfreieste Variante ist: Kopf in Verlängerung der Wirbelsäule, also Blick leicht schräg nach unten gerichtet. Die schweren Jungs werfen oft gerne den Kopf in den Nacken beim Drücken. Dem entgegnen die wissenschaftlich geprägten Trainer gerne mit neurophysiologischen Nachteilen durch eine Verengung der nervenführenden Kanäle bei der Überstreckung. Mit Kopf in Verlängerung der Wirbelsäule kann man aber absolut gar nichts falsch machen.
Rücken:
Ein heikles Thema, welches eigentlich keines sein sollte. Denn unsere Wirbelsäule hält sehr sehr viel aus. Was jetzt nicht heißen soll, dass die Ausführung egal ist, aber es darf auch nicht sein, dass den Leuten unnötig Angst gemacht wird, denn Angst ist kein guter Begleiter in der Schmerzvermeidung oder -bekämpfung. Bitte verabschiedet euch von dem Gedanken, dass eine Bandscheibe rausflutschen oder Wirbel verschoben werden kann. Wäre dem so, würden jetzt eher die Dinosauerier die Weltherrschaft haben, denn dann hätten wir evolutionär keine Chance gehabt. Im Ernst, die Wirbelsäule und deren passiven Strukturen sind fest verwachsen und da flutscht nichts raus. Einfach mal eine herauspräparierte Wirbelsäule googeln.
Was aber bekanntermaßen passieren kann, ist eine über jahre- und jahrzehntelange Fehlbelastung entstandene Abnützung von Gelenken und/oder Bandscheibe bis hin zur Beschädigung selbiger. Abnutzungserscheinungen an sich sind etwas völlig Normales. Sogar der gepflegteste Drahtesel weist nach vielen Jahren und tausenden Kilometern Gebrauchsspuren auf (äußerlich und innerlich). Und mal ehrlich, wer pflegt seinen Körper genauso gut wie sein Rad oder Auto.
Um derartige Erscheinungen aber zu minimieren, macht es Sinn biomechanisch möglichst schonend zu agieren. Die Wirbelsäule hat eine riesen Bewegungsfreiheit, welche auch unbedingt genutzt werden muss. Wenn ich sie aber belade, dann ist sie axial belastet (also in Neutralstellung von oben drückend) am stabilsten und wenn man langsam die Belastbarkeit durch vernünftige Belastung steigert, hält sie unglaublich hohe Lasten aus, kein Vergleich zu den „Kinkerlitzchen“ des Alltags.
Eine Anmerkung dazu:
Neutralstellung ist nicht gleich „gerade“. Die natürliche Form der Wirbelsäule ist geschwungen, daher sollte die natürliche Lordose (Krümmung in der Lendenwirbelsäule) gehalten werden. Aus dem einfachen Grund, dass nur dann die Wirbelgelenke (Facettengelenke) optimal und stabil in einander greifen. Bei einer Beugung nach vorne öffnen sie, bei einer Überstreckung (wird gerne als Hohlkreuz bezeichnet) schieben sie sich zu weit ineinander und das kann auf lange Sicht ebenfalls Probleme machen.
Für die Ausführung der Kniebeuge bedeutet das, egal wie die Ausführung sein mag, die Wirbelsäule muss in Neutralstellung gehalten werden. Trotzdem die Kniebeuge als rückenkräftigende Übung gilt, erfolgt KEINE Bewegung aus der Wirbelsäule-Becken-Verbindung, die nötige Bewegung kommt aus Hüfte, Knie und Sprunggelenk. Der Kräftigungseffekt kommt aus der Haltearbeit der Rückenmuskeln. Gerade für Radfahrer, die den Großteil der sportlichen Aktivität in einer gebeugten LWS verbringen, macht die Kniebeuge mit einer Schulung der Neutralstellung und Kräftigung der Rückenmuskeln in dieser Position gesundheitlich absolut Sinn.
Becken:
Um die oben angesprochene Neutralstellung halten zu können, ist es in erster Linie wichtig überhaupt das Becken bewegen zu können. Stell dich hin und versuche ohne Kniebewegung das Becken vor-rück zu kippen. Solange du das nicht kannst, brauchst du auch nicht über die Kniebeuge nachzudenken. Auch um deine individuelle Neutralstellung zu finden, brauchst du nämlich Kontrolle über deine Muskeln. Stell dich aufrecht hin und spanne so fest du kannst Oberschenkelvorder- und -hinterseite, Gesäß, Bauch und Rücken an. Das Becken wird sich in seine Neutralstellung begeben und du kannst über einen seitlichen Blick oder eine Aufnahme überprüfen, ob diese mit deinem Empfinden übereingestimmt hat. Diese Herangehensweise ist einfach, bedingt aber, dass man all diese Muskeln aktiv anspannen kann und dies gibt dann eine verlässliche Orientierung.
Das Becken, dessen Kontrolle und die Beweglichkeit im Hüftgelenk sind auch ein erstes Kriterium, wie tief die Kniebeuge durchgeführt werden kann. Ab einer gewissen Tiefe kommt es zum sogenannten butt wink. Dies ist der Punkt, ab dem die oben angesprochene Neutralstellung in der LWS nicht mehr gehalten werden kann und sich eine Rundung der LWS ergibt. Da dies ebenfalls der Punkt ist, an dem die Wirbelgelenke beginnen, sich zu öffnen, sollte aufgrund immer größer werdender Instabilität und aufgrund der ebenfalls ungünstigen Belastung der Bandscheiben diese Position nicht mit Gewicht belastet werden. Das heißt nicht, dass man sich fürchten muss, wenn man im Alltag etwas vom Boden aufhebt oder sein Kind hochnimmt. Denn alles, was man kann, soll man auch machen und im besten Fall trainieren. Aber man sollte vermeiden, mit einer schwer beladenen Langhantel über die Jahre hunderte und tausende Wiederholungen zu machen. Man geht also so tief, solange man die Neutralstellung muskulär gut halten/sichern kann.
Hüfte (hip hinge):
Das Schlüsselgelenk für die Bewegung. Hier entsteht die korrekte Bewegung und hier passieren auch die meisten Fehler. Das Hüftgelenk ist das erste Gelenk, welches in der Abwärtsbewegung aktiv wird. Bei stabiler Wirbelsäulen-Becken-Verbindung erfolgt eine kontrollierte Beugung im Hüftgelenk bevor das Kniegelenk mitwirkt – dies ist der sogenannte hip hinge (engl. Für Hüftscharnier). Die Hüfte leitet die Bewegung ein und wie tief die Bewegung sein wird, ist zu einem großen Teil von der Hüftbeweglichkeit (Anatomie + Beweglichkeit der passiven Strukturen) abhängig. Es gibt Hüftgelenkspfannen, die weiter nach außen zeigen und andere, die leicht nach vor gerichtet sind. Man kann sich vorstellen, dass die Voraussetzungen dann total unterschiedlich sind. Die Form des Gelenkpartners zur Pfanne, nämlich des Oberschenkelkopfes, ist dabei genauso entscheidend.
Oberschenkel:
Denn der Winkel des Oberschenkelhalses kann steil oder flach sein, und die Rotation bezogen auf das Kniegelenk kann ebenfalls variieren. Aber nicht nur das, auch das Verhältnis der Länge von Unterschenkel zu Oberschenkel zu Oberkörper bestimmt die Tiefe der Bewegung aus biomechanischer Sicht. Klassischerweise werden oft Kleinkinder als Beispiele für eine perfekte Kniebeuge angeführt. Die Voraussetzungen sind allerdings nicht dieselben wie beim Erwachsenen. Kleinkinder sind (noch) sehr beweglich und viel am Boden unterwegs (zumindest bis zum Schulalter). Das wäre ja noch durch Training zu kompensieren. ABER ihr verhältnismäßig langer Oberkörper im Vergleich zum Ober- und Unterschenkel verhilft ihnen zu einer perfekten Tiefkniebeuge. Denke an diese Position und verlängere geistig nun den Oberschenkel mehr als den Oberkörper (das passiert nämlich beim Wachstum). Der Schwerpunkt wandert weit nach hinten und ein Umfallen ist unumgänglich, je länger der Oberschenkel im Verhältnis wird. Das heißt Menschen mit eher kürzeren Oberschenkelknochen haben von Natur aus eine bessere Eignung für Tiefkniebeugen. Wenn die restliche Anatomie und Beweglichkeit auch noch passt, dann ist diese Bewegung überhaupt kein Problem. Im Gegenzug heißt es auch, dass Menschen mit langen Oberschenkelknochen, geringer Hüftbeweglichkeit und ungünstiger Anatomie vielleicht überhaupt nie die Chance haben (ohne Hilfsmittel) eine korrekte Tiefkniebeuge zu trainieren. Aber das muss auch nicht jeder. Auch eine für dich perfekte Ausführung und Tiefe bringt genug Vorteile für das Leben und das Radfahren.
Ein kleiner Tipp: vermutet man eine ungünstige Form der Hüfte, oder hat man einfach wenig Beweglichkeit, kann man eine etwas breitere Stellung wählen, da dadurch die Beweglichkeit in der Hüfte etwas erweitert wird und man trotzdem den gesamten Vorteile der Kniebeuge nutzt. Im Optimalfall sollte man aber auch daran arbeiten, die Beweglichkeit (wieder) zu erhöhen.
Knie:
So ziemlich jeder, der ein bisschen Vorwissen aus dem Gesundheitstraining mitbringt, kennt, weiß und fürchtet es: die Knie wandern über die Zehenspitzen. Ein absolutes No-Go und macht jedes Knie kaputt. Oder doch nicht…?!
Man muss sich davor weder fürchten, wenn es passiert, noch lässt es sich im Alltag vermeiden. Falls du schon mal etwas vom Boden aufgehoben oder eine gemütliche (oder sportliche) Bergbegehung hinter dir hast, wird es dir hunderte, tausende und abertausende Male passiert sein. Noch dazu als quasi einbeinige Kniebeugevariante mit dem gesamten Körper- und Rucksackgewicht auf einem Knie, da du wahrscheinlich nicht beidbeinig hochgehüft bist. Und trainieren wir nicht dafür, um im Alltag und Sport robuster zu werden. Na dann, auf zur Tiefkniebeuge und vor mit den Knien. So simpel ist es dann leider auch nicht.
Je weiter die Knie nach vor wandern, desto größer ist der Anpressdruck der Patellasehne (verbindet den Muskel der Oberschenkelvorderseite mit dem Unterschenkel), in die auch die Kniescheibe eingefasst ist. Ist man diese Belastung nicht gewohnt, können sich Knieschmerzen einstellen. Das hat aber nichts mit der Übung an sich zu tun, denn wenn du normalerweise flach fährst und dann sofort 4000 Höhenmeter bei einer Tour, wirst du mitunter auch Knieschmerzen bekommen. Deswegen hört man aber nicht das Radfahren auf, sondern bereitet sich das nächste Mal besser vor. Also ist der Grund wie immer ein Missverhältnis von Belastbarkeit und Belastung. Die Belastbarkeit kann ich durch Training steigern, genauso wie ich am Anfang der Saison in der Regel keine 200K Tour fahren kann, aber durch ständig längere Touren sich die Fähigkeit dafür einstellt. Dasselbe gilt für das Höhenmeterbeispiel.
Von Vorne gesehen müssen die Knie immer über den Sprunggelenken gehalten werden (oder ganz leicht außerhalb). Keinesfalls dürfen die Knie nach innen kippen. Passiert dies – kritisch ist dabei immer der Umkehrpunkt von der tiefsten Position in die Aufwärtsbewegung – solltest du das Gewicht reduzieren und/oder nochmal an der Technik feilen.
Sprunggelenk:
Da das Sprunggelenk ziemlich fixiert ist, gilt es in diesem Gelenk eigentlich „nur“, die Muskelspannung zu halten. Der gesamte Fuß sollte stabil stehen und das Fußgewölbe sollte nicht nach innen kippen während der Bewegung.
Hat man anfangs etwas mit der Bewegung an sich Probleme, hilft es die Gesamtlast bei der Kniebeuge eher auf das hintere Drittel des Fußes zu richten. Das heißt, dass man während der gesamten Bewegung den vorderen Fuß (Fußballen und Zehen) entlastet. Somit kann es zu keiner erhöhten Belastung im Kniegelenk kommen und man verschiebt – gewollt – die Hauptarbeit auf die Hüfte. Langfristig ist das Ziel aber, die Belastung bei gleicher Ausführung auf den ganzen Fuß zu verteilen.
Ist das Sprunggelenk relativ unbeweglich – was wahrscheinlich bei sehr vielen zutrifft – dann hat man wiederum das Problem, dass der Schwerpunkt rasch nach hinten wandern muss. Will man also nicht umfallen, muss man die Bewegung wieder umkehren oder in der LWS rund werden (das ist klarerweise keine Option). Daher ist auch die Sprunggelenkbeweglichkeit ein Kriterium wie tief die Kniebeuge ausgeführt werden kann. Da diese auch im Alltag die Bewegung im gleichen Ausmaß einschränkt, sollte man relativ intensiv daran arbeiten, diese zu verbessern. Auch für einen runden Tritt ist es kein Nachteil, diesem Gelenk etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Viele neigen dazu, eher mit einem „Spitzfuß“ zu treten, was nach hunderttausenden Umdrehungen eher dazu führt, dass das Gelenk eher fest und weniger beweglich wird. Daher ist ein ausgleichendes Training – und die Kniebeugebewegung IST bereits ein daran arbeiten – absolut anratenswert.