Rennradtraining ohne Rennrad
Mathieu van der Poel tut es, Nils Politt und Wout van Aert auch. Und sie sind bei weitem nicht die einzigen. Viele Rennradfahrer wechseln in der kälteren Jahreszeit auf Cyclocross und/oder MTB. Denn wenn es wieder matschig, kalt und feucht wird, sind das die perfekten Bedingungen für Cyclocross.
Mit Cyclocross verbindet man meist Schmerz, Blutgeschmack im Mund, Dreck und Vollgas, zumindest, wenn man wettkampfnah trainiert oder sogar an Wettkämpfen teilnimmt. Die Charakteristiken solcher Wettkämpfe sind unter Anderem kurze, steile Rampen, Hindernisse, welche laufenderweise überwunden werden können/müssen, kurze Abfahrten, schnelle Beschleunigungsphasen, Sandpassagen, Schlammstücke, Schnee, etc. Ein kurzer Rundkurs mit diesen Bestückungen wird dann mehrere Male gefahren.
Ob man selbst derartige Kurse mit einem dafür konzipierten Cyclocross Rad, einem Gravelbike oder einem MTB absolviert, ist für den Trainingszweck grundsätzlich mal egal. Es geht um den Reiz an sich, der durch den Wechsel ins Gelände und der damit zwangsweise einhergehenden wechselnden Intensität entsteht. Man kann die Passagen, die man überwindet, dann noch in den Varianten hart, härter, am härtesten absolvieren und so seinem Körper eine richtig feine Laktatparty gönnen. Natürlich lassen sich theoretisch auch längere Grundlagen im variablen Dauerbereich so trainieren, darauf soll im Folgenden aber nicht eingegangen werden, sondern auf die Seele des Cyclocross, dem Auspowern in kurzer Zeit und somit dem Setzen eines neuen Reizes auf den Körper, um neue Anpassungen auszulösen.
Gerade in der Übergangszeit macht es Sinn, dem Körper und Geist einmal andere Anforderungen zuzumuten. Dabei geht es sowohl um die Beherrschung des Geräts als auch um eine oftmals komplett neue Reizsetzung für Muskeln und Herzkreislaufsystem.
Je nachdem, wo man wohnt, lassen sich Routen irgendwo in der Umgebung finden. Nutze Wiesen- und/oder Waldwege (so die Befahrung gestattet ist), Schotterstraßen, Dammrouten mit Stiegen als Tragepassage etc. Egal, was du findest, du kannst dir frei nach Pippi Langstrumpf deine eigene Strecke basteln, so widdewidde wie sie dir gefällt.
Die einen basteln sich knackige Runde mit Hindernissen und kurzen Steigungen, die man vielleicht sogar absteckt, um dort gegen die Kumpanen anzutreten, oder um einen Wettkampf gegen den schlimmsten aller Gegner zu fahren, den inneren Schweinehund. Andere lassen es etwas „gemütlicher“ Angehen und wählen (Feierabend-)Runden, in denen man das Gelände in der Umgebung mit sich wiederholenden ein- bis mehrminütigen Antritten erkundet, Feldwege entlang brettert, welche man mit dem Rennrad nur widerwillig befährt, ausgetretene Wege und Schotterpassagen durchpusht, etc.
Die Vorteile von Cyclocross
- Dadurch, dass die Intensität sehr hoch ist, kann der Umfang und somit das Training nur vergleichsweise kurz ausfallen. Daher ist man hoffentlich vor oder bei der früh eintretenden Dunkelheit zurück im Warmen und kann bestenfalls die Regeneration auf der wohlverdienten Couch einleiten.
- Die hochintensive Abwechslung ist für die Entwicklung der Leistungsfähigkeit für die kommende Saison durchaus willkommen. Es stellt einen neuen Reiz dar, einen Stimulus, den die Muskeln in der Form vielleicht schon lange nicht mehr – falls überhaupt schon einmal – hatten. Einen Großteil der Zeit auf Anschlag, kaum Erholung, ein ständiger Kampf gegen die Gedanken an die gemütliche Couch, auf der man nach der Saison eigentlich entspannen könnte. Richtig dosiert setzt ein derartiger Stress neue Adaptationsprozesse in Gang. Der Muskel will mit mehr Sauerstoff versorgt werden, das Laktat gewinnt an Bedeutung für die Energieversorgung und wird effizienter verteilt und verbraucht. Sogar im Hirn finden nicht zu unterschätzende Prozesse statt. Mittlerweile wurden hypertrophierende Effekte im Sinne der neuronalen Neubildung in Motivationsarealen nachgewiesen, wenn man sich kontinuierlich schwer belastet. Sprich man kann länger pushen.
- Durch wechselnde Untergründe, verschiedene Steigungen, das Überspringen von Hindernissen und diverse Kurvenradien verbessert man so ganz nebenbei auch noch seine Fahrtechnik und Linienwahl. Daher sollte man ruhig seine Grenzen austesten, um auch in Situationen zu kommen, die man koordinativ lösen muss, wenn man vielleicht etwas zackiger um die Kurve bolzt. Selbst auf die Gefahr hin, die Situation nicht lösen zu können. Derartiges macht klarerweise dort Sinn, wo man im Falle eines Sturzes nichts riskiert wie z.B. eine enge Kurve auf einem Wiesenabschnitt. Wie immer gilt, dass die Anforderung der aktuellen Belastbarkeit angepasst werden muss. Ist man in derartigem Terrain ein Newby, dann muss man erst mal die Einsteigerrunde wählen und sich weiterarbeiten.
- Falls man vielleicht sogar etwas längere Tragepassagen von mehreren Sekunden in die Runden inkludiert, profitiert man auch von einer höherer Herzkreislaufanforderung und einem folglich höheren VO2max-Stimulus, da ja mehr Muskeln auf Anschlag arbeiten müssen. Dazu müssten im Laufe des Trainings dann schon mehrere derartige Passagen inkludiert sein oder wiederholt werden, aber allein schon durch den vermehrten Oberkörpereinsatz im Gelände hat man sicherlich mehr Muskeln am Arbeiten als bei ruhigen Ausfahrten am Asphalt.
- Es entwickeln sich Schnellkraft (durch die Antritte) und Kraftausdauer (durch ständig wiederkehrende Kraftanforderungen). Man lernt dadurch sowohl mental als auch körperlich kurze Attacken oder Anschlussaktionen im Wettkampf im Sinne eines Transfereffekts besser zu meistern.
Welche neuen Reize werden gesetzt?
Die hochintensiven Reize setzen entsprechend ihrer Intensitätshöhe diverse Signale im Körper. Für die Entwicklung der mitochondrialen Dichte und Größe bzw. der VO2max zeigen viele Studien der letzten Jahre und Jahrzehnte, dass intensive Intervalle verglichen mit arbeitsgleichen kontinuierlichen Belastungen positive Anpassungserscheinungen bei nahezu allen Sportlern hervorrufen. Untersucht wurden hauptsächlich intermittierende Intervalltrainings von Belastungszeiten bis 1min und längere Intervalle bis 8min, teils sogar bis 16min (MacInnes et al, 2016; Tønnessen & Rønnestad, 2016; Rønnestad, Hansen, Vegge, Tønnessen & Slettaløkken, 2015; Seiler, 2009; Seiler, 2010).
Man kann so die dem abfallenden Umfang geschuldeten Leistungseinbußen in der Saisonpause in gewissem Sinne etwas abfedern, indem man den Sauerstoffverbrauch mittels erhöhter Intensität hochhält. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss erwähnt sein, dass dies ein umfangorientiertes Training allein schon wegen den energetischen Anpassungen keinesfalls langfristig kompensieren kann.
Man muss aber auch festhalten, dass man nicht zwangsweise an die Kotzgrenze gelangen muss, um vom off-road Training zu profitieren. Die VO2max entwickelt sich aufgrund des oxidativen Stresses auf das System. Wenn der Radfahrer eine bestimmte Menge Sauerstoff pro Stunde oder Einheit im Grundlagenbereich umsetzt, schafft er ganz grob gerechnet dieselbe Menge in kürzerer Zeit, wenn er Teile davon intensiver fährt. Das schafft man auch mit mehrminütigen Intervallen knapp unter der Schwellenleistung mit dem Vorteil, dass man schneller wieder bereit für Belastungen ist im Gegensatz zu Einheiten am absoluten Limit. Und es reicht ja, im Winter eine gewisse Leistungsfähigkeit zu erhalten, um im Frühjahr von einem guten Fundament aus zu starten. Kontinuität im Training ist für die VO2max sehr viel wichtiger als sich ständig platt zu machen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass eine gewisse Zeit im Herbst/Winter mit vielleicht ungewohnt mehr Intensität im Gelände sowohl den Spaßfaktor erhöht als auch körperlich einen neuen Input setzt. Im Frühjahr sollte man dann wieder langsam beginnen, sich seinem Zielstoffwechsel für die Wettkampfsaison zu widmen.
Planung
Beginne deine Runde(n) mit Gesamttrainingszeiten von 60min 3x die Woche (Wochentrainingsstunden = 3h) und steigere dich langsam auf bis zu 90-120min pro Einheit und 10h pro Woche bei 4-5x Trainings. Vergiss im Trainingsaufbau nicht jede 3. Bis 4. Woche eine Entlastungswoche einzulegen, wo du vielleicht nur 2-3x pro Woche fährst. Der neue Reiz kann für deinen Körper doch sehr anstrengend sein und der Organismus muss von dir Zeit bekommen, diesen Stress zu verarbeiten.
Die Trainingszeit kann durchaus gestreckt werden, indem man an schönen Wochenenden längere „normale“ Trainingsausfahrten einstreut.
Hier ein möglicher 2 Monatsaufbau (bei entsprechend weniger Zeitreserven muss in den jeweiligen Wochen in gleichem Maße die CC-Zeit gekürzt bzw. kann immer eine Einheit weggenommen werden)
Woche 1 / 5,5h (Erklärungen zu den Abkürzungen: s. weiter unten)
Woche 2 / 6,5h
Woche 3 / 7,5h
Woche 4 / 4h
Woche 5 / 6h
Woche 6 / 7,5h
Woche 7 / 8,5h
Woche 8 / 5h
CC Cyclocross
RR Rennrad
Beispielrunde 1 (4-8min Runde):
Runde enthält mehrere folgende Kriterien:
- Kurze 15sec-40sec Steigung bei kleinen Runden oder
- Längere 1-4min Steigungen bei längeren Runden
- Zumindest ein Hindernis zum Übersteigen oder als Bunny-hop zu überwinden
- Flachpassage nach einer Kurve von 200-400m
- Evtl. Tragepassage (Stufen, Hang, ausgetretener Weg, …)
- Fahre die Steigungen all-out, dann konzentriert in den Abfahrten, wo du dich aber kurz erholen sollst
- Im Flachstück volle Beschleunigung, dann etwas rausnehmen
- Tragepassagen mit vollem Tempo, so schnell wie möglich hoch, um wieder aufs Rad zu kommen und dann gleich Druck aufs Pedal für mehrere Sekunden (5-10sec)
Beispielrunde 2 (10-15min Runde):
Du hast eine längere Steigung zur Verfügung, die du in einem Rundkurs oder als Pendelkurs bewältigen kannst:
- fahre längere Steigungen (2-4min) so, dass du am Ende bei gefühlt 90% ausbelastet bist, beim runterfahren erholst du dich, um die Steigung so oft zu fahren bis du anfangs kumuliert 15min, später 30min im harten Bereich gefahren bist
Beispielrunde 3 (20-60min Runde):
Du hast mehrere kurze Steigungen als Rundkurs zur Verfügung und dazw. auch Tragepassagen wie Treppen, kurze Wiesenstücke o.ä. (hügeliges Gelände oder Auf-/Abfahrten zu Treppelwegen)
- fahre die kurzen Steigungen all-out und danach zumindest 3min, maximal 6min locker